Inklusion – ein Kommentar

(von Nina Maurer, Pädagogische Bedarfsermittlung)

Das Thema Inklusion ist derzeit in aller Munde. Nicht nur wir werden täglich im Rahmen unserer Arbeit mit dem Begriff konfrontiert, auch auf übergeordneter Ebene wird Inklusion wieder heiß diskutiert. Anlass hierfür war sicherlich die UN-Staatenprüfung Inklusion, die das Förderschulsystem in Deutschland als „nicht vereinbar mit dem Grundsatz der inklusiven Bildung“ einstuft.[1] Gleichzeitig zeigt jedoch das Deutsche Schulbarometer von 2023, dass viele Lehrkräfte mit der Umsetzung von Inklusion überfordert sind und knapp Dreiviertel der Befragten meinen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besser in Sonderschulen gefördert werden könnten.[2] Die getroffenen Aussagen der UN-Staatenprüfung Inklusion und des Deutschen Schulbarometers sind mir zu pauschal, teilweise schon reißerisch, es gibt zu viele Facetten, die nicht betrachtet werden.

Grund genug für mich, einmal das Thema „Inklusion“ aus meiner Sicht zu reflektieren. Neben den Erfahrungen aus meiner Arbeit bei LERNLANDSCHAFT spielen auch persönliche Elemente mit ein, denn meine Cousine ist behindert (Spektrum geistige Entwicklung mit autistischen Zügen) und besuchte in ihrer Schulzeit ein Förderzentrum mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, d.h. das Thema „Inklusion“ – nicht nur auf Bildungsebene – beschäftigt mich schon ein Leben lang.

Zu Beginn meiner Arbeit bei der LERNLANDSCHAFT hatte ich die Gelegenheit, eine Förderschule mit Förderschwerpunkt Lernen im Bodenseeraum bei ihrer pädagogischen Konzeptentwicklung begleiten zu dürfen. Die Schulleitung und ihr gesamtes Kollegium sind unglaublich engagiert, ihre Schülerinnen und Schüler auf das Leben vorzubereiten, und stellen die Bedürfnisse der Kinder zu jeder Zeit in den Fokus. Die Aufmerksamkeit, die man den Schülerinnen und Schülern dort schenkt, wird mit Respekt, Freundlichkeit und Leistung beantwortet. Sicherlich gilt das nicht für jeden Schüler/jede Schülerin – auch ich möchte nicht pauschal werden – aber meine Wahrnehmung und auch die Gespräche mit der Schulfamilie über die Situation innerhalb der Schule und zwischen Schülern und Lehrern waren durchweg positiver Natur. In direkter Nähe zur Schule befindet sich eine Gemeinschaftsschule, die im Laufe des Prozesses gemeinsam mit der Förderschule nach Synergien suchte. Es wurde jedoch auch schnell deutlich, dass es Grenzen gibt, im Nutzen von gemeinschaftlichen Funktionen! Hier spielt der Grundsatz, den wir in der LERNLANDSCHAFT vertreten, eine ganz wichtige Rolle: „Synergie, wo möglich – Separation, wo nötig.“ Selbstverständlich war es beiden Schulen ein Anliegen auch Synergien zu schaffen, um Grenzen zu überwinden, jedoch betonten sie gleichzeitig, dass die Bedarfe ihrer Schülerinnen und Schüler zu unterschiedlich seien und vor allem in der Förderschule ein größeres Bedürfnis nach Schutz, den die Kinder oftmals auch zu Hause nicht erführen, bestünde.

Dieser Schutzraum könne ihnen an der Regelschule noch nicht geboten werden. Sie könnten nicht bedarfsgerecht unterrichtet werden und würden zahlreiche Rückschläge erleben müssen. Dennoch finde ich es wichtig, dass inklusive Projekte – unabhängig vom Unterrichtalltag – vorangetrieben werden. Seien es gemeinsame AGs, Musik-/Theaterprojekte oder ähnliches, alles Möglichkeiten, um sich kennenzulernen und Vorurteile zu entkräften. Zur Umsetzung bedarf es, meiner Meinung nach, der Beteiligung von Ansprechpartnern aus beiden Schulen, um den jeweiligen Schülerinnen und Schülern eine gewisse Sicherheit mitgeben zu können. Zu dieser Erkenntnis gelangten auch beide Schulen und so soll es in Zukunft Gemeinschaftsflächen für Theater und Musik oder Praxis-Projekte geben, die dann auch schulübergreifend umgesetzt werden.

Dies führt mich zu einem Beispiel aus meinem privaten Alltag, das genau an einer solchen Stelle ansetzt: Wie eingangs beschrieben, besuchte meine Cousine eine Förderschule mit Schwerpunkt geistige Entwicklung. Sie lernte dort Lesen und Schreiben, baute sich einen Freundeskreis auf und wurde bestmöglich auf ihre Ausbildung und ihren weiteren Lebensweg in der Berufswelt vorbereitet – einer Tätigkeit in der Lebenshilfe. Mein Eindruck von ihrer Schulzeit war durchweg positiv, vor allem, weil sie immer voller Stolz von ihren Erlebnissen und ihren Klassenleitungen – alles sehr starke Vorbilder – erzählte. Eine Erfahrung, die sie sicher nicht missen möchte. Ob es an der Schule bereits inklusive Angebote gab, kann ich leider nicht beurteilen. Die Inklusion innerhalb meiner Familie fand hauptsächlich in ihrer Freizeit statt. Es war wichtig, dass meine Cousine am regulären Präparanden- und Konfirmandenunterricht in ihrer Kirchengemeinde teilnahm. Und es war auch möglich, aber nur mit der Hilfe eines engagierten Pfarrers und der Teilnahme ihrer Schwester (in meinem Alter) und deren Freundeskreis (inklusive mir), die ihre Stunden als Assistenz begleiteten und ihr somit die Konfirmation, unter Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse, ermöglichten. Auch die Angebote der offenen Behindertenarbeit sind für mich ein nicht mehr wegzudenkender Beitrag gelungener Inklusion. Alles steht und fällt jedoch mit dem persönlichen Engagement der Beteiligten.

Die beiden Beispiele aus meiner Arbeit und meinem privaten Umfeld sind nur zwei persönliche Sichtweisen auf das Thema Inklusion. Betrachtet man die gesamte Bandbreite an sonderpädagogischen Förderschwerpunkten und das Spektrum an Einschränkungen aus dem Freundeskreis meiner Cousine wird eine Sache schnell deutlich: Hier lässt sich keiner in eine Schublade stecken! Es muss klar sein, dass eine „gezwungene Inklusion“ auf allen Ebenen versagen wird. Die besonderen Bedürfnisse erfordern in mancher Situation auch einen besonderen Umgang und können sicher nicht nach einem „Schema F Inklusion“ abgehandelt werden. Ich stehe komplett hinter der Forderung, dass es hier einen Wandel geben muss, aber nicht zu Lasten der Beteiligten und eben auch nicht pauschal mit der Herangehensweise „Förderschulen gehören abgeschafft“ oder „Kinder mit besonderem Förderbedarf können nur an Sonderschulen unterrichtet werden“. Hier müssen alle Aspekte betrachtet und durchdacht werden. Dies wird meiner Meinung nach weder in der UN-Staatenprüfung noch im Deutschen Schulbarometer berücksichtigt.

Sicherlich gibt es einige Gelingensbedingungen, die im Hinblick auf Inklusion an Schulen beachtet werden müssen: Es braucht eine Steigerung der Attraktivität für den Lehrberuf im Allgemeinen, aber auch eine verbesserte Lehrer- und Pädagogenausbildung. Bereits in einem frühen Stadium muss hier auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingegangen werden, um die Lehrerinnen und Lehrer besser auf den Alltag vorzubereiten. Es braucht an dieser Stelle auch eine Änderung des Unterrichtens, um zu ermöglichen, dass alle Kinder nach ihren Bedürfnissen und Talenten gefördert werden können. Es braucht eine neue Lernkultur. Gleichzeitig sind die einzelnen Professionen wichtiger denn je! Sonderpädagogen und Schulbegleitungen sind ein wichtiger Bestandteil beim Thema Inklusion und müssen als Teil der Lösung betrachtet werden. Ein „Hand-in-Hand“ und kein Gegeneinander muss stattfinden, um Inklusion zu ermöglichen. Das Agieren als Team ist unabdingbar. Es braucht eine neue Teamkultur. Die Arbeit mit einer neuen Lernkultur und im Team benötigt andere Räume, als wir sie aus den klassischen Flurschulen kennen. Für moderne und teamorientierte Pädagogik müssen flexible Lernlandschaften entstehen, die zum einen Schutzbereiche bieten, aber gleichzeitig die Zusammengehörigkeit stärken.  Es braucht eine neue Raumkultur.

Im Einklang dieser drei Dimensionen kann Inklusion gelingen, jedoch dürfen wir die wichtigste Komponente nicht vergessen: die Kinder und ihre individuellen Bedürfnisse, egal ob mit oder ohne Behinderung! Inklusion ist nicht für jedes Kind sinnvoll, für manche ist die Förderschule der einzig richtige Bildungs- und Entwicklungsort. Hier stimme ich einer Aussage von Michael Felten, Publizist und Autor zu: „Nicht eine Schule für alle – sondern für jedes Kind die momentan beste!“[3]

Abschließend bleibt mir nur noch Folgendes zu sagen: Auch ich schaffe es nicht, gedanklich alle Facetten der Inklusion zu erfassen, aber ich bin offen für den Dialog und den Austausch, der mir auch selbst immer wieder die Augen öffnet. Inklusion muss ganzheitlich betrachtet werden, der Mensch und seine Bedürfnisse müssen im Fokus stehen.  

Dies deckt sich mit der Herangehensweise von LERNLANDSCHAFT: Wir entwerfen gemeinsam mit allen Nutzern bedarfsgerechte Lösungen und finden in jedem individuellen Projekt das bestmögliche Ergebnis.