Interview: „Wir müssen mehr Orte und Zeiten der Begegnung schaffen“

Für die „INSPIRED“-Broschüre zum Thema Ganztagsschule des Möbelherstellers VS hat Karin Doberer ein Interview gegeben. Im Gespräch ging es u. a. darum, wie sich Teamkultur in multiprofessionellen Teams an Ganztagsschulen entwickeln kann.

Frau Doberer, in Ganztagsschulen waren schon immer verschiedene Professionen beschäftigt. Wie gut arbeiten sie tatsächlich zusammen?
In den letzten Jahren war das räumlich und organisatorisch eher ein Nebeneinander – mit der Gefahr, dass aus dem Nebeneinander ein Gegeneinander entsteht. Das ging bis hin zu Territorialkämpfen, die wir erlebt haben.

Haben Sie ein Beispiel?
Typisches Beispiel ist, dass vom Träger vorgesehen ist, den Werkraum vormittags für Unterricht und nachmittags im Ganztag für AGs zu nutzen. Aber plötzlich blieben nachmittags Zeichnungen zum Trocknen auf den Tischen liegen, weil es nicht ausreichend Ordnungs- oder Lagermöglichkeiten gibt. Konsequenz ist, dass die Lehrkraft niemand anderen mehr in „ihren“ Raum gelassen hat, weil sie ihn am nächsten Morgen für ihren Werkunterricht brauchte.

Cover Sonderdruck Magazin Inspired
Cover der "INSPIRED"-Broschüre

Inwieweit hat das Neben- oder Gegeneinander auch mit hierarchischen Strukturen zu tun? Schließlich arbeiten im Ganztag neben Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften häufig auch Ehrenamtliche.
Entscheidend ist, dass im Schulentwicklungsprozess das Bewusstsein wächst: „Wir arbeiten als multiprofessionelles Team für dieselben Kinder am selben Ort, nur mit unterschiedlichen Bildungsaufträgen“. Wenn das gelingt, wird die Qualität der unterschiedlichen Professionen für alle zum sichtlichen Mehrwert – für die Kinder in ihrem Lern- und Entwicklungsprozess sowieso, aber auch für die Erwachsenen. Lehrkräfte etwa werden enorm entlastet, wenn alle gemeinsam überlegen: Wer kann was dazu beitragen, damit am Ende ein gutes Ergebnis erzielt wird? Schließlich haben alle, ob Lehrkraft, pädagogische Fachkraft oder ehrenamtlich Tätige, ihre eigenen Stärken und Bildungsaufträge, die sich ergänzen.

Wie gelingt es, solch ein Miteinander im Team zu entwickeln?
Wenn man multiprofessionelle Teams ehrlich meint, wenn man sie zum Wohle von Ganztagsschule entwickeln will, dann müssen wir Orte und Zeiten der Begegnung schaffen. In der Regel gibt es diese an Schulen nicht. Es braucht aber Gelegenheiten, wo ad hoc und interdisziplinär und gerne bei einer Tasse Tee die Chance für Austausch besteht. Hier kann zum Beispiel die Lehrkraft erzählen, dass ihr vormittags im Unterricht ein Kind traurig und geknickt erschien und die Betreuungskräfte bitten, am Nachmittag genauer hinzuhören und zu schauen, ob sie einen Zugang zum Kind finden. Wir kommen also weg vom Denken „Ich und meine Klasse von 8 bis 13 Uhr hinter dieser Tür“ zu „Wir und unsere Kinder von 8 bis 16 Uhr an einem gemeinsamen Lernort“.

Wie kann und muss der Träger da unterstützen?
Der Träger spielt hier eine elementare Rolle, denn die Umsetzung des Ganztagsanspruchs für Grundschulen ab 2026 ist Trägerpflicht und -aufgabe. Zu erwarten, dass von der Basis Konzepte erarbeitet werden, die möglicherweise scheitern, weil der Träger sie nicht versteht und umsetzt, führt nur zu Frust. Der Träger muss also investieren: in Raum, in Ausstattung, in professionelle Arbeitsplätze für Lehrkräfte – damit die nicht gezwungen sind, für ihre Vor- und Nachbereitung ein ganzes Klassenzimmer zu blockieren, in Organisationsstrukturen – dazu gehört auch die Organisation des Reinigungsteams, in ein Verkehrskonzept für das Abholen der Kinder, in gemeinsame Fortbildungen … Das alles sind Themen, die das Gelingen von Ganztag massiv beeinflussen.

Eine Vision von LernLandschaft ist eine „pädagogische Architektur, die den Bedürfnissen von Lernenden und Lehrenden bestmöglich gerecht wird“ …
… oh, da müssen wir unbedingt die Betreuenden ergänzen!

Bezieht sich diese Vision auch auf die Gestaltung der Räume für das Personal? Und wie heißt ein solcher Raum dann?
Der Begegnungsraum für alle ist das Teamcafé. In dem kann natürlich nicht ungestört gearbeitet werden. Deshalb ist wichtig, gemeinsam abzustimmen: Welchen Arbeitsplatz braucht wer wo? Was muss im Klassenzimmer an Arbeitsplatz vorgesehen sein, was in einem Teamraum, was in der zentralen Verwaltung im Pädagogenbereich? Im Grunde müssen wir uns im Ganztag um die Bedürfnisse des Erwachsenenteams genauso kümmern wie um die der Schülerinnen und Schüler: Wie kommt ihr an – und was braucht ihr da? Was passiert im Tagesablauf, in den Pausen, am Nachmittag, bis zum Heimgehen – und was braucht ihr da? Wo und wie wollt ihr euch vor- und nachbereiten? Wo möchtet ihr auch mit einem Kollegen aus der Jahrgangsstufe austauschen, wo multiprofessionell mit der Sozialarbeiterin über Projekte? Das kann nicht alles in einem Raum stattfinden, auch da gibt es keine Eier legende Wollmilchsau.

Aber wo sollen die Räume herkommen? Gerade in Bestandsbauten herrscht häufig Platzmangel.
Wir machen liebend gerne Bestandsbegehungen, denn dabei sehen wir fast immer überraschte Gesichter. Natürlich gibt es auch Schulen, die dringend Erweiterungsbedarf haben, das darf man nicht negieren. Aber in sehr vielen Schulen entdecken wir ungenutzte Raumpotenziale wie Kartenarchive, Lernmittelräume oder Abstellkammern, die sich umorganisieren und umnutzen lassen. Dazu kommt, dass Räume multifunktionaler genutzt werden können.

Welche Rolle spielt die Ordnung in diesen multifunktionalen Räumen?
Ganz klar: Wir müssen als Erwachsene Regeln für einen Raum entwickeln, die für alle gelten, die diesen Raum nutzen. Ein Nebeneffekt: Wenn Erwachsene diese Dinge untereinander aushandeln, Teamkultur also sichtbar leben, hat das auch Auswirkungen auf die Kinder, die vom Vorbild lernen. Das Wichtigste: Der Raum braucht mehr Ordnung und mehr Möglichkeiten für Identität. Wir müssen also schon bei den Kindern nicht personalisierte Arbeitsplätze einführen: Jedes Kind macht einen Platz nur so lange zu seinem, wie es ihn braucht. Ist es fertig, parkt es seine persönlichen Dinge wieder an dem dafür vorgesehenen und geschützten Ort in der Schrankwand oder im Sideboard. So hat jedes Kind die gleiche Chance, einen Arbeitsplatz zu seinem zu machen, ohne in die Privatsphäre des Vornutzers einzugreifen.

Raumstruktur und -ausstattung sind also eine Voraussetzung für die Entwicklung einer Teamkultur?
Zu hundert Prozent. Alles andere sind Zufallserfolge, weil Menschen über alle Maßen engagiert sind und bereit zu improvisieren. Sind die Rahmenbedingungen geschaffen, sind jedoch wieder die Menschen gefordert, gemeinsam Regeln aufzustellen und gemeinsam für ihr Einhalten zu sorgen. Schulentwicklung braucht eben die Dreidimensionalität von Lern- und Fehlerkultur, Raumkultur und Teamkultur.

Die Broschüre kann als PDF-Datei hier heruntergeladen werden.